Natalia Saakel, Deutschland, Kassel

Die Rose und die Distel

©Aus Russischen von Helene Abrams, Warendorf

© Illustration von Daniel Breininger, Aachen 

Es gab einmal vor einem alten Haus einen wunderschönen Garten. Darin wuchsen seltene Bäume und Pflanzen. Einige Bäume waren so groß, dass sie spazierenden Menschen eine schattige Herberge anbieten konnten. Unter solchen Bäumen standen immer Bänke. Bei gutem Wetter, wenn die Sonne hoch stand, nahmen die Gäste des Hauses auf einer solchen Bank Platz und ruhten sich aus.
Letzten Sommer war ich in dem Haus zu Besuch. Die Hitze war recht stark und ich suchte mir ein gemütliches Plätzchen auf der Bank unter dem alten großen Smaragdlebensbaum heraus. Ein leichter Wind wehte, fleißige Bienen und Hummeln summten monoton… Es war so still und ruhig überall… Plötzlich….was hörte ich?

Es piepste, ja, es piepste immer deutlicher, dass ich sogar einige Worte verstand. Das war eine rote Rose. Sie teilte einer anderen gelben Rose aufgeregt mit, dass es auf keinen Fall so weiter gehen kann: „In unserer ganz anständigen edlen Gesellschaft… ich schäme mich weiter zu erzählen…“

„In unserer Gesellschaft von Edelrosen, sehr, sehr, sehr verehrten hundertjährigen Linden, Smaragd- und Blaulebensbäumen wächst eine ganz einfache Distel.“
„Erstens, keiner lud sie hierher ein! Es ist unglaublich – ein, vom Wind gebrachter Samen!“ „Mit uns Rosen ist es etwas ganz anderes! Wir wurden aus einer SEEEHR BERÜHMTEN GÄRTNEREI geliefert. Wir wurden hierher mit einem AUTO gebracht! Und das Auto fuhr ein FAHRER, unser PERSÖNLICHER FAHRER!!!“

„Ja! Und die alten Linden und die Lebensbäume? Sie besuchten alle als anständige Baumkinder die Baumschule!“
„Jetzt haben wir diese Di…Di…Distel, die steckt `mitten im Essen`, Pardon, Rasen!“
„Sooo frech ist sie, wächst immer höher, bald wird sie drei Meter sein! Es ist einfach unverschämt! Und ihre entsetzlichen Dornen! Was für eine Farbe! Sie sind komisch… und silbern!“
„Ja, aber wir haben auch unsere Dornen“, sagte die gelbe Rose vorsichtig.
„Stimmt!“, antwortete die rote Rose.
„Aber wir haben die grünen und deswegen…Edeldornen!“
Dieser Dialog setzte sich weiter fort.

Die Distel war wirklich groß. Die beiden Rosen konnten einfach nicht sehen, wie schön da oben die Distelblüte war. Wie eine purpurrote Flamme flackerte sie in der Mitte des Rasens.
Ein junges Pärchen kam vorbei. Die Frau pflückte die purpurrote Diestelblüte und sagte: „Die Blüte stammt aus Schottland, aus meiner Heimat. Die ist so wichtig für uns, dass sie sogar ihren Platz auf unserem Wappen hat. Ich schenke sie dir, mein Liebster. Diese Blüte ist zur Erinnerung an mich.“

Nach einer langen Pause piepste die rote Rose wieder: „Na, was sagte ich! Mir war sofort klar, dass ALLE Pflanzen in diesem Garten ausschließlich zur höchsten, edelsten Gesellschaft gehören!“
„Und die Distel… Distel, apropos, die, die sich auf dem Wappen von Schottland befindet…, mit der bin ich sogar verwandt. Als Beweis habe ich auch diese Dornen. Meine sind, natürlich, nicht so edelsilbern…aber!“

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